Der allererste Sinn und Zweck der Rubrik „Retrospektive“ ist es, den jüngeren Generationen den Zugang zu den Klassikern und Schätzen der Vergangenheit zu erleichtern. Aber auch ältere Semester sollen sich an den Jahreshitparaden erfreuen.
Man soll ohne viel Federlesen direkt sehen können, was für tolle Lieder ein Jahr zu bieten hat.
Als ich mit der popmusikalischen Vergangenheitsbewältigung anfing, war ich vielleicht gerade mal 16 oder so. Es waren die Neunziger und die Hochphase des Eurodance hatte den Alten Kontinent fest im Griff. Ich machte erste Retro-Gehversuche und nahm den einen oder anderen Klassiker auf Starsatradio auf. Oder war es RTL Oldie Radio? Ich erinnere mich jedenfalls noch an „Vincent“ von Don McLean. Vielleicht auch an „Downtown“ von Petula Clark.
Man kann kaum beschreiben, was für einen Charme diese alten Lieder entfalten, wenn man sie in so jungen Jahren zum ersten Mal bewußt hört. Wenn sie also noch etwas wahrhaft Historisches ausstrahlen und Ehrfurcht erzeugen. Diesen jungfräulichen Blick sollte man sich bei aller Expertise bewahren. Trotz des heutigen Überangebots und der Ramschmentalität sollte man die Klassiker als Ikonen ihrer Zeit und akustische Geschichtsbücher begreifen. Trotz aller Vereinnahmung sind sie Souvenirs ihrer Zeit und sollten auch so gehört werden.
Bei bestimmten Liedern komme ich mir z.B. immer wieder vor wie im Ostberlin der Achtzigerjahre. Songs wie „Strangelove“, „Shake the desease“ und „Everything counts“ von Depeche Mode bringen mich jedenfalls jedes Mal auf eine emotionale Zeitreise.
Das Interesse am Alten fing bei mir schon ziemlich früh an und vertrug sich auch hervorragend mit dem allgemeinen Niedergang der Popmusik, der besonders um die Mitte der Neunzigerjahre zu verzeichnen war, als die Musik immer oberflächlicher wurde. Zuerst galt meine Aufmerksamkeit den Achtzigern, und nach einer Marathon-Session mit entsprechenden Samplern, die damals gerade in Mode kamen, nannte ich stolz ganze sieben Kassetten mein eigen, die voll waren mit Hits von damals. Aber schon bald erweiterte ich den Radius und nahm alles auf, was ich in die Finger bekam. Ich erinnere mich noch, wie ich in der Bezirksbibliothek eine Greatest-Hits-CD vom Alan Parsons Project auslieh und glückselig war ob der tollen Songs darauf. Ich wurde auch eigens Mitglied in einem CD-Verleih, der deutlich mehr zu bieten hatte als die öffentlichen Bibliotheken.
Den Niedergang der Popmusik in den Neunzigern markiert für mich vor allem das Lied „Believe“ von Cher aus dem Jahre 1998. Mal abgesehen von seiner Trivialität war es wohl der erste große Hit, bei dem die neue Software Autotune Verwendung fand, die es ermöglicht, Stimmen digital zu verfremden. Dieses Lied war für mich damals eine Tortur und ich konnte immer weniger mit der aktuellen Popmusik anfangen. Ich denke, es ist offensichtlich, daß die Musik im Laufe der Neunziger immer trivialer und effekthascherischer wurde, vermutlich auch unpolitischer – zumindest das, was dann in den Charts ankam.
Das Goldene Zeitalter der Popmusik ging damals zuende. Natürlich gab es auch seitdem und in den Nuller- und Zehnerjahren dennoch immer mal wieder tolle Lieder. Es handelt sich aber wohl immer mehr um Zufallstreffer. Schon gegen Ende der Neunziger wird es schwierig, eine Top 100 der besten Lieder eines Jahres zusammenzustellen, wenn man die Sache ernst nimmt. Es findet sich einfach unheimlich viel Trash und Fastfood in den Hitparaden damals. Ich will ja keine Namen nennen.
Aber dieser größere Entwicklungsstrang hin zu einer „Industrialisie-rung“ und immer stärkeren Kommerzialisierung der Popmusik, zu immer mehr Zynismus und „Marktismus“ begann vermutlich schon in den Achtzigern. Deren zweite Hälfte hält auch schon so manche Zumutung parat, die die spätere Mentalität vorwegnimmt.
Deshalb vertrete ich auch die Meinung, daß wir im Grunde genommen einen Zeitraum von um die 40 Jahren vor uns haben, den man als „Goldenes Zeitalter der Popmusik“ bezeichnen könnte – nämlich ungefähr die Jahre von 1955 bis 1995. So läßt sich grob die Epoche der Popklassiker zusammenfassen.
1955 erblickte Bill Haleys „Rock around the clock“ das Licht der Welt und brachte sie gehörig ins Wanken. Und angesichts des schlechten Images der Neunziger ist es erstaunlich, wieviel gute und epochemachende Lieder es trotz allem noch in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts gab.
Es ist also durchaus eine Ironie, daß ich hier eine Art Pop-Almanach für die nachwachsenden Generationen zu schaffen gedenke – denn ich bin im Grunde genommen selber auch nur ein Lernender und habe kaum etwas von den glorreichen Zeiten mitbekommen. Zumindest an die Fünfziger, Sechziger und Siebziger habe ich keine bewußten Erinnerungen. Man kann sich aber denken, daß jemand, der gegen Ende der Siebziger das Diesseits heimsuchte, trotzdem voll ist mit Impressionen aus diesen Jahrzehnten – und daß er auch mehr oder weniger bewußt ein gutes Stück Achtziger in sich trägt.
Ich erinnere mich jedenfalls noch sehr gut, wie „Voyage voyage“ oder „Another holiday“ im Radio liefen und ich „Wild boys“ – oder das, was ich dafür hielt, inbrünstig beim Tauchen in der Badewanne sang. Dazu waren diese Lieder – und im Falle des Duran Duran-Klassikers auch das Video – einfach viel zu markant, als daß sie nicht auch schon in der präpubertären Phase ordentlich Eindruck hätten schinden können. Mein bewußter Zugang zur Musik begann aber erst in den Jahren 1989/90.
Die hier aufgeführten Jahreshitparaden sollen es also Nachgeborenen erleichtern, die Schätze der Vergangenheit zu heben. Aber auch ältere Hasen können sich noch inspirieren lassen. Ein zweiter wichtiger Antrieb für das Erstellen dieser Hitparaden ist ihr subjektiver, nichtkommerzieller Charakter. Schaut man sich die offiziellen Jahreshitparaden oder andere professionelle Zusammenstellungen wie auf chartsurfer und dergleichen an, so muß man nämlich immer wieder feststellen, daß auch schon im glorreichen Zeitalter der Popmusik eine Menge Triviales und Banales die Charts stürmte. Zudem spiegelt der kommerzielle Erfolg keineswegs immer die Qualität eines Liedes wider. Gute Songs findet man mitunter erst auf den hinteren Plätzen der Jahrescharts wieder – oder gar nicht.
Die offiziellen Jahreshitparaden sind also nur bedingt aussagekräftig und lehrreich. Viel schöner wäre es doch, wenn man alle wirklich guten Lieder eines Jahres auf einen Blick hat. Wo man sich relativ sicher sein kann, daß z.B. jedes Lied in der Top 50 dort auch wirklich hingehört.
Ich bilde mir ein, den dafür notwendigen Geschmack zu haben. Natürlich sind diese Plazierungen immer ein gutes Stück mit Subjektivität behaftet. Mein Geschmack scheint mir aber recht tolerant und breitgefächert zu sein, sodaß mir meine Einordnungen ziemlich vernünftig und nachvollziehbar erscheinen. Ich lege auch Wert darauf, kein elitäres Schnöseltum an den Tag zu legen, wie man es gar nicht so selten von Musikjournalisten und Nerds kennt. Bei mir plazieren sich auch Jennifer Rush, Modern Talking und Samantha Fox da, wo sie hingehören.
Zuweilen witzele ich auch in Musikforen, daß ich auch gerne Rod Stewart, Rick Astley und Belinda Carlisle höre. Der Humor dort ist allerdings nicht allzu ausgeprägt. Man pflegt in diesen Foren mitunter einen recht elitär-narzißtischen Zugang zum Thema Musik. Mir ist es wichtig, daß auch die einfacheren Lieder, die häufig nichts dafür können, daß sie im Radio zu oft gespielt werden, angemessen Berücksichtigung finden. Ich vertrete einen ganzheitlichen Ansatz.
Aber natürlich werden auch bei mir Rick Astley, Jason Donovan oder DJ Bobo eher nicht auf Platz 1 landen.
Man sollte die einzelnen Plazierungen selbstredend nicht allzu ernst nehmen. Insbesondere je weiter sie sich von der Spitzenposition entfernen. Ein Lied, das auf Platz 90 residiert, könnte bei einer nochmaligen Zusammenstellung also relativ problemlos auch auf Platz 80 landen.
Es geht hier nur ums Ungefähre, ums Prinzip. Daß man sich ein Bild machen kann von der Qualität eines Liedes. Daß man einen ungefähren Überblick bekommt über die Schätze eines Musikjahres. Ein unfaßbar geiles Lied wie „Driver‘s seat“ von Sniffin‘ the Tears würde ich aber wohl immer wieder auf den ersten Platz des Jahres 1979 setzen. Allenfalls auf Platz 2. Und es versteht sich von selbst, daß man Lieder, die man sowieso nich‘ so dolle findet – also die letzten 20 oder 30 eines Jahrgangs -, auch nicht sonderlich exakt voneinander abstuft.
So ungefähr sind diese Hitparaden zu verstehen. Es ist der Versuch einer halbwegs objektiven und brauchbaren Rangordnung.
Da das Zusammenstellen solcher Listen ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt, habe ich mich dazu entschieden, auch unvollständige Vorabversionen zu veröffentlichen, die noch Leerstellen aufweisen. Ich möchte schon möglichst früh möglichst viel Material veröffentlichen. Die unvollständigen Hitparaden erkennt man u.a. auch an ihrem suboptimalen Layout, einer gewissen Unvollkommenheit.
Natürlich bin ich immer dankbar für Hinweise auf Lieder, die in einer Liste fehlen. Man kann ja unmöglich alle guten Lieder eines Jahres mit abschließender Gewißheit ausfindig machen. Deutsche Lieder nehme ich eher zurückhaltend in die Jahreshitparaden auf. Ich habe aber vor, gelungenes deutsches Liedgut auch gesondert zu erwähnen.
Es kommt immer wieder vor, daß ich bei der Recherche auf teils sehr erfolgreiche Lieder stoße, die Spitzenplätze erreichten, aber doch so enttäuschend sind, daß sie mir nicht als würdig erscheinen, in eine Jahreshitparade aufgenommen zu werden. Auch dieses Momentum halte ich durchaus für wissenswert und lehrreich, sodaß ich diese Lieder in einem „Transparenzhinweis“ erwähne.
Man soll ruhig wissen, was dazumalen zu Unrecht erfolgreich war.
Schlußendlich sei noch erwähnt, daß ich die jeweiligen Lieder immer dem Jahr zuordne, in dem sie zuerst die deutschen Charts enterten. Taten sie dies gegen Ende Dezember, also in der zweiten Hälfte des Monats, so ordne ich sie dem nächsten Jahr zu. Entscheidend ist also nicht das Datum der Produktion oder Veröffentlichung, sondern der Einstieg in die Charts. Mir scheint eine Orientierung am allgemeinen Bewußtsein am sinnvollsten. Und das spiegeln für mich die Charts.
Enterte ein Lied nicht die deutschen Hitparaden, so orientiere ich mich zumeist an den britischen oder den US-Charts. Die Zuordnungen können jedenfalls mitunter von offiziellen Jahreszahlen oder anderen etablierten Einordnungen abweichen, was aber wohl recht selten der Fall ist.
Das sind alles in allem die wichtigsten Informationen zu den Jahreshitparaden. Man darf die Listen gerne vervielfältigen und anderswo veröffentlichen. Es geht hier schließlich um die größten kulturellen Errungenschaften der Menschheit – und um die möglichst unkomplizierte Weiterverbreitung dieses Wissens.
Zu viel Pathos? Es mag ja viel Hottentottenmusik geben, aber meiner Meinung nach wird die Bedeutung der Rock- und Popklassiker stark unterschätzt. Im normalen Leben normaler Menschen spielen diese Lieder eine weitaus größere Rolle als Bach, Beethoven und sonstige vermeintliche Hochkultur. Auch Belletristik scheint mir deutlich überbewertet.
Bevor mir hier nun gleich Rechtspopulismus und Bildungsferne vorgeworfen werden, sei noch einmal mit aller Emphase darauf hingewiesen, daß sich die U-Musik nicht vor der E-Musik verstecken muß und daß mir diese Lieder häufig viel mehr sagen und bedeuten, viel mehr einzigartige Momente bescheren als irgendein Gefiedel aus dem 19. oder 18. Jahrhundert. Was bin ich doch für ein erbärmlicher Kulturbanause.
Und ich bin auch noch stolz drauf.
Wir sollten das Genie hinter vielen dieser Lieder jedenfalls stärker würdigen. Sie tragen vielleicht mehr zur Einheit der Menschheit bei als manch Gipfel, Appell, Konferenz oder „Aktivismus“. Diese Würdigung ist auch ein Anliegen dieser Listen.
Ich freue mich also über eine Weiterverbreitung, wäre aber dankbar für eine Verlinkung und Erwähnung, woher das Material stammt.